Beobachtungen
von Marita Odia
Fotos: Eva Rusch
Mülheim im Sommer 2022. Kommt es mir nur so vor, oder gibt es vor meiner Tür mehr Müll als früher? Wie sieht der Bürgersteig vor meiner Haustür aus? Warum hängt der Papierkorb an der nächsten Straßenkreuzung nicht mehr? Ich müsste vor der Haustür mal gründlich sauber machen …
Während der Sommerferien ist Köln-Mülheim gefühlt immer ein wenig ruhiger als sonst. Weniger Menschen, die vom Bahnhof zur Arbeit eilen. Und zurück. Keine Kinder auf dem Schulweg, kaum Fans auf dem Weg in die Schanzenstraße. Weniger Autos, mehr freie Parkplätze. Zeit, durch die Straßen zu schlendern. Der Blick wandert und entdeckt bisher Ungesehenes. Es liegt ganz schön viel Müll an den Straßenecken, in Vorgärten, in der Ecke eines privaten Parkplatzes liegt ein barock geschwungener, gepolsterter Sessel, fast von Grün überwuchert. Mehr als zuvor? Kann ich nicht sagen. Über die Montanusstraße auf die Mündelstraße an der Mauer des evangelischen Friedhofes vorbei, dann am kleinen Park mit den gut genutzten Sitzmöglichkeiten über die Ampel, am Hochhaus vorbei auf die Genovevastraße. Ein Fußweg biegt ab an der Genovevaschule vorbei Richtung Keupstraße. Plastikbecher, Papiertüten, Flaschen auf dem Weg zum Schulparkplatz. Dahinter: Eine kleine Oase im Grün. Menschen spielen Boule auf dem Platz. Kleine Beete sind angelegt mit Grün. Warum sind manche Ecken im öffentlichen Raum so gruselig, warum fallen sie mal ins Auge und mal nicht?
Ich wollte nie so werden wie meine Oma, die sich tagelang aufregen konnte, wenn Menschen ihren Müll einfach achtlos wegwarfen. Vergangene Woche habe ich mich dabei erwischt, wie ich einen gut gelaunten Jugendlichen angeschnauzt habe, der seinen Müll vor unsere Haustür warf. Richtig laut, damit es peinlich ist und die Jugendlichen auf der anderen Straßenseite es mitbekommen. „Soll ich etwa den Müll aufheben, den Du auf meine Treppe geworfen hast?“ In diesem Moment hat das Spaß gemacht. Der Junge hat genervt mit den Augen gerollt und ist wortlos weiter gegangen. Wäre dies eine Chance zum Gespräch gewesen: Ich habe sie auf jeden Fall vertan.
„Ich möchte es ein bisschen sauberer haben.“
Micha Becker ganz in der Nähe der Berliner Straße. Dort ist er allseits bekannt, denn „Micha“ räumt die Straße sauber. Wir haben uns am Kulturbunker verabredet. Von dort sind es rund 250 Meter bis zu einer Bäckerei, in der wir einen Kaffee trinken wollen. Auf diesem kurzen Weg scannt Micha mit den Augen die Straße, den Bürgersteig, die Beete. Bückt sich nach rechts und links, sammelt in 30 Sekunden zwei Dosen und zwei Flaschen. Wechselt die Straßenseite, stellt das Leergut ganz selbstverständlich im Büdchen ab. Kein Papierchen bleibt liegen. Er macht keine Pause, er kann nicht aufhören, den Müll von der Straße zu sammeln. Micha trinkt seinen Kaffee gern mit Zucker. Achtet darauf, dass die Zuckertütchen nicht herunterfallen. „Ich kann mir nix dafür kaufen,“ kommentiert er seine Müll-Leidenschaft am Kaffeetisch. Und: „Ich möchte Vorbild sein.“ Der Müll nervt ihn. Wenn er Fragen stellt, kann man darauf immer nur eine – die richtige – Antwort geben: „Welches Kind spielt gern im Müll?“ Kein Kind spielt gern im Müll. Eltern lassen ihre Kinder auch nicht gern im Müll spielen.
Und trotzdem liegt viel rum. Aus seiner langjährigen Beschäftigung bei den Kölner Abfallwirtschaftsbetrieben (AWB) erläutert er: 650 Kilogramm Müll fallen pro Person und Jahr bei der AWB an. Es gefällt Micha, wenn man ihn als Heinzelmännchen bezeichnet. Jemanden, der hilfsbereit ist, ohne etwas dafür zu wollen. Er erzählt aus seiner Jugend. Eigentlich ist er ein Naturmensch, aufgewachsen in Ostwestfalen auf dem Bauernhof der Großeltern. Zu sozialem Verhalten erzogen. Micha hilft gern. Räumt Müll weg, wenn er darum gebeten wird. Eine Frage bleibt offen: Warum Menschen Müll aus dem Fenster oder vor die Tür werfen, statt ihn in die Tonne zu packen, ist für ihn (wie für viele andere Menschen auch) ein Rätsel.
Es gibt eine Menge einfache Antworten auf die Frage von Micha. Aber sie liefern keine echte Lösung. Zum Beispiel eine, die ich in den vergangenen Monaten häufig hinter vorgehaltener Hand gehört habe: „Man darf das ja nicht laut sagen, aber ich meine, es sind die…“ - und dann kommt je nach Perspektive eine andere, mit den eigenen Vorurteilen reichlich beladene Bevölkerungsgruppe, die im Viertel lebt. Hauptsache schwach oder noch schwächer. Die Sinti, die Bulgaren, die Obdachlosen… meine Oma hätte vor 30 Jahren gesagt „die Türken“. Es tut mir leid Oma, dies jetzt über Dich zu schreiben…Du hast mich geliebt, ich habe dich geliebt, aber an dieser Stelle waren wir damals schon unterschiedlicher Meinung.
Oder eine andere, sicher löbliche Antwort, wenn Menschen das Müllsammeln zu einer kollektiven Freizeitbeschäftigung machen. Als gutes Vorbild in Form eines Happenings, oder als Verein mit regelmäßigen Sammelaktionen am Rheinufer und einer Menge Fernsehauftritte, als Kirchengemeinde im Viertel, die so in Corona-Zeiten ohne großen Trommelwirbel etwas für den Zusammenhalt tut.
„Es müssen echte Gespräche entstehen.“
Die städtische Initiative „Hallo Nachbar, DANKE SCHÖN“ hat eine Antwort. Sie ist aber verdammt kompliziert. Dafür aber auch mit viel praktischer Erfahrung gespickt, denn Hallo Nachbar ist schon seit einigen Jahren in Köln-Mülheim aktiv, setzt sich für Sauberkeit und Lebensqualität im Stadtteil ein. Die Expertinnen und Experten im Team von Hallo Nachbar sind überzeugt, dass der Müll ein äußeres Anzeichen für ein tiefer liegendes Problem ist. Sie gehen davon aus, dass Müllhaufen im Hausflur und auf öffentlichen Flächen nur dann verschwinden, wenn alle Bewohner*innen sich mit dem Stadtteil identifizieren und sich als dazugehörig empfinden. Also das genauer Gegenteil von „Die anderen sind schuld.“ Aufklärung gehört dazu. Vorbild sein. Nachbarschaft leben und ganz praktisch gestalten. Und deshalb setzt Hallo Nachbar vor allem auf Mitmachangebote, Kunst- und Sport-Aktionen, Feste, gemeinsames Gärtnern, umweltpädagogische Aktivitäten in Zusammenarbeit mit Schulen, Vereinen und Jugendeinrichtungen. So entstand der Treffpunkt im Genovevahof zwischen der Genovevastraße und der Keupstraße.
Helin Bicici ist schon einige Jahre Teil des Hallo Nachbar-Teams. Seit März 2022 ist sie im Projektmangement von Hallo Nachbar in Mülheim und in Neubrück tätig. Man braucht Erfahrung, um Gespräche mit den Menschen zu führen. Das sei ein Lernprozess, bei dem man ein Gefühl für die Bedürfnisse des Gegenübers entwickele. „Erstmal musst Du verstehen, in welcher Situation die Menschen, mit denen Du sprichst, gerade sind.“ Für Migrantinnen und Migranten ist Mülheim häufig der erste Stadtteil, in dem sie Leben. Sie brauchen viel Kraft, um sich zu orientieren.
Auch unter den Zugezogenen gibt es immer wieder Persönlichkeiten, die Lust haben, sich um die Umgebung und andere Menschen zu kümmern. Diese sind die Verbündeten der Nachbarschaftsaktivistinnen. „Man muss eigene Veränderung wollen oder sogar daran Spaß haben,“ meint Helin Bicici. Wer sich ausschließlich über die Nachbarschaft beschwert und Veränderung nur als zusätzliche Leistung der Stadt definiert (noch mehr Abfalleimer, mehr Bänke, mehr Unterstützung), denkt nicht über eigene Handlungsspielräume nach. Doch Helin Bicici und ihre Kolleginnen Filiz Yildiz und Najoua Benelouargua werden nicht müde, immer wieder neue Ideen für eigenes Handeln und Umdenken zu bieten: Weniger einkaufen, mehr tauschen, teilen oder wiederverwenden, Kleider oder Möbel upcyceln. Das Vorbild zählt – und das Interesse an den Nachbarinnen und Nachbarn. „Echte Gespräche müssen entstehen,“ meint Helin.
Mülheim, habt ihr Lust? Es geht um Eigenverantwortung, aktives Handeln und Kontakt, nicht nur um Belehrung, weniger Müll und zu wenige Mülltonnen. Die Latte hängt hoch. Antworten sind nicht immer einfach. Aber machbar. Es geht um Gespräche, ja, auch über Müll, aber sie dürfen dort nicht stehen bleiben. Es geht um Menschen, Nachbar*innen, die sich sehen. Um gegenseitigen Respekt. Habt ihr Lust?
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