Mülheim Miniaturen
Eine Reihe von Marco Hasenkopf
Illustration: Eva Rusch
Miniatur #4
Ich stehe in der Schlange an der Wurstbude. Mittagspause. Dreißig und mehr hungrige Kunden warten darauf ihre Bestellung aufgeben zu dürfen. Eben war ich noch im Schreibtunnel und nun bin ich mittendrin. Manchmal ist schreiben wie träumen. Und dann wache ich auf und habe ein Loch im Bauch. Ein Passant quetscht sich genau bei mir durch die Reihe, ein anderer hustet laut in meine Richtung, eine Frau macht Fotos von den Wartenden. Auch von mir. Vorne an der Theke traut sich ein Mädchen nicht zu bestellen und schiebt ihre Mutter vor, die sich selbst unschlüssig ist, was sie essen soll. Hinter ihr beginnen die Wartenden von einem Fuß auf den anderen zu treten. Ich werde abgelenkt. Aus einer Gruppe auf der Treppe in der Nähe der Wurstbude löst sich eine ungefähr fünfzigjährige Frau. Sie kotzt ihr Kölsch, verbal wie flüssig auf die Pflastersteine. Weshalb war ich noch mal hier? Ein kleiner Hund tänzelt ihr um die Füße. „Mixie“ oder so ähnlich heißt die arme Töle, die mich eher an eine Toilettenbürste erinnert. In der Zwischenzeit haben Mutter und Tochter nach langer Diskussion bestellt, was eine ältere Dame mit bunter Pudelmütze mit den Worten: „Wenn Sie nicht selber bestellt, hat sie auch keinen Hunger“ kommentiert. In diesem Moment berührt mich etwas im Rücken. Der Druck ist sanft, aber doch entschieden und vor allem einfach vorhanden.
Langsam drehe ich mich um: Ein glatzköpfiger Rentner mit Schnäuzer und FC-Jacke drückt mir liebevoll seinen Schmerbauch ins Kreuz. Er will nur zwei Krakauer bestellen.
Logo, die passen da locker rein! Löffelchenstellung an der Wursthütte, das geht dann doch zu weit. Gerade will ich die Beherrschung verlieren, da übernimmt das die Vettel, die eben gekotzt hat, für mich: „Mixie!“, brüllt sie. Die Klobrüste hat gekackt. Es sieht aus wie eine Cashewnuss nur größer. Alle schweigen, warten gespannt, was passieren wird. Hebt sie den Kackhaufen auf oder macht sie das arme Tier platt? Die Frau kreischt irr. Ihre Stimme klingt wie eine Mischung aus Everlast und Ivan Rebroff samt Don Kosakenchor. Dabei wankt sie wie ein besoffener Karnevalist an Weiberfastnacht. Ich bin schockiert. Nicht zu letzt über meinen Vergleich. Grußlos ver- abschiede ich mich von meiner Intimbeziehung. Der neue Hamburgerladen auf der Frankfurter Straße soll mein Ziel sein. Für eine kurze Wegstrecke gehen zwei Frauen neben mir her. Kolleginnen. Wie der erste Arbeitstag nach drei Wochen Urlaub sei, fragt die eine. Gut, antwortet die andere. Ja, und wie es denn so im Urlaub gewesen sei, hakt die erste nach. Grässlich, antwortet die Gefragte kleinlaut, viel zu heiß und seltsam leer sei es gewesen.
„Wo warst du“, fragt die erste nach einer Pause.
„Türkei.“ Ich will ausweichen und wünsche mir insgeheim die Leute würden wegen meiner Bulgarisch sprechen, damit ich kein Wort verstehe. Ein junges Mädchen schiebt ein mit Zeitungen beladenen Kinderwagen an mir vorbei. Sie trägt abgetragene Turnschuhe; destroyed fashion ganz authentisch. Kurz vor meinem Ziel werde ich von einem Mann auf Englisch angesprochen. Er stellt sich als Somali vor und bittet um etwas Geld für sich und seine Frau, der ein Fuß amputiert wurde. Ich gebe ihm zwei Euro. Keiner fühlt sich besser. Als ich endlich den Imbiss erreiche und betreten will, lese ich ein mit blauem Kugelschreiber handschriftlich verfassten Aushang: 13-14 Uhr Mittagspause. Mülheim, es leben die Fiktion!
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