Partycrasher
Mülheimia Miniatur #6
Eine Reihe von Marco Hasenkopf
Illustration: Eva Rusch
Seebach ist ein Luftkurort im Schwarzwald. Dort gibt es Wiesen, jede Menge Obstbäume, die namensgebenden „schwarzen“ Nadelwälder und freundliche Menschen, die mitunter etwas spießig erscheinen, aber was soll’s? Nobody is perfect. Und es gibt eine Straße. Irgendeine gelbe B500XY, die mitten durch den Ort führt. Rund um die Uhr rollt hier eine nie enden wollende Blechlawine hindurch. Die Abgase wabbern durchs Tal wie morgendlicher Nebel, der zu Eichendorffschen Versen inspirieren will – nein, es ist weit weniger idyllisch als man denkt. Ich kann es kaum freundlicher formulieren: Luftkurort am Arsch. Fälle dieser Art sind Fakt und Thema seit den späten 1970ziger Jahren. Über vierzig Jahre später gibt es ein (erneutes) Wiedererwachen einer Umweltbewegung. Ob es sich dabei um einen tatsächlichen Weckruf oder nur um eine kurze Unterbrechung vom Tiefschlaf handelt, wird sich noch herausstellen. Auch in Mülheim gibt es eine gelbe B XY über die tagtäglich eine Blechlawine rollt. Seit den 1970zigern weiß man auch, dass Abgase irgendwie ungesund sind, und nicht nur so tun als würde sie stinken. Gleich einem Patienten, der die Diagnose nicht wahrhaben will, watscheln wir zum nächsten Facharzt und bitten um eine zweite Meinung. Und egal was der verkündet, feststeht unser Abgasproblem ist kein kleiner Schnupfen, der sich von alleine kuriert, sondern ein bösartiger Tumor mit Todesfolge. Die Medikamente liegen auf dem Tisch, aber sie schmecken richtig bitter und deshalb schlucken wir sie nicht. Natürlich gefällt es der Autoindustrie nicht, dass sie ein Krebsgeschwür ist. Wer ist schon gerne eine tödliche Krankheit? Und wenn man das alles wegleugnet, kann man gleich noch im ganz großen Stil betrügen. Am Ende steigert das sogar den Umsatz.
The show must go on – von mir aus, aber... die (Aftershow)-Party ist vorbei – O Schreck, ja, der Klimawandel ist real. Leider begreifen sehr viele Leute nicht, dass das Goldene Zeitalter des Automobils längst Geschichte ist. Niemand hat die Myriaden von Fliegen und anderen Insekten gezählt, die in meiner Kindheit während langer Autofahrten auf den Windschutzen zerplatzt sind. Stellen Sie sich eine Frage: Wie viele Insekten sterben im Jahr 2019 bei einer Autofahrt auf ihrer Windschutzscheibe? Mein Englischlehrer sagte Anno 1993 nach einer durchzechten Nacht vor(!) dem Abi zu mir, als ich verspätet im Unterricht erschien: Wer saufen kann, der kann auch lernen! Wer Gas gibt, kann auch Fahrrad fahren, Bäume pflanzen, auf Inlandsflüge verzichten, den Motor ausschalten.
Gewöhnlich finden wir den Vergleich wie finster das Mittelalter angeblich gewesen ist irgendwie chic, weil wir uns als dann als besonders fortschrittlich ansehen können. Sicherlich hat es im Mittelalter gestunken, weil der Nachttopf aus dem Fenster auf die Straße gekippt wurde. Drehen wir den Vergleich um: Stellen wir uns vor jemand aus dem Mittelalter könnte für einen Tag zum Beispiel die gute Luft am Clevischen Ring schnuppern. Ich wage zu behaupten, dass es keine Stunde dauern würde und der betreffende würde sich wünschen lieber wieder Pippi-Kacka-Stinkerei ertragen zu müssen, als den besonders aparten Abgase-Odeur der vielen Hundert vorbeirasenden Verbrennungsmotoren. Wir akzeptieren den Gestank. Auch die Menschen im Mittelalter verpassten ihre Chance. Obwohl sie bereits bekannt war, wurde die Kanalisation erst viel später eingeführt. Und was tun wir? Wider besseren Wissen lassen wir mit besonderer Vorliebe bei jeder Gelegenheit den Motor laufen. Brötchen holen, an Ampeln, wenn wir jemanden aussteigen lassen, beim Altglas entsorgen. Wir saugen lieber eine Megatüte-Abgase ein, als mal auf die simple Idee zu kommen den Motor auszuschalten. Selbst angeblich umweltbewusste Eltern kann man dabei beobachten, wenn sie ihren Nachwuchs mit dem Auto zur Schule bringen und es ist eh schon fraglich, ob das unbedingt mit dem Auto passieren muss. Dann wird in zweiter Reihe geparkt und man lässt den Motor tuckern. Auch wenn das eigene Kind am Kofferraum die Schultasche herausholt und mitten in den Abgasen steht. Macht nichts, tut gut. Minute um Minute steht man da, weil man ja die Straße blockiert und wegen den vielen anderen Autos, die das genauso tun eigentlich nicht mehr von Verkehr sondern von Stillstand reden muss. Soviel zur Fortschrittlichkeit. Das ist finsteres Mittelalter.
Die Lösungen und Ideen zum Schutz der Umwelt wie der Demokratie liegen alle auf dem Tisch, sie werden nur nicht umgesetzt. Der Patient weigert sich hartnäckig. Wie lautet meiner Ansicht nach die beste Zukunftsperspektive: Widerstand und Zivilcourage. Gegen das Nichtstun. Gegen das Abwälzen der Verantwortung auf andere. Gegen die Leute, die ständig behaupten da könne man nichts tun. Das System sei Schuld. Die Wirtschaft müsse schließlich wachsen. Unendlich wachsen wie die Zauberbohnen im Märchen. Das müsse man akzeptieren, dass man im Stau steht. Warum darüber aufregen, was man eh nicht ändern könne? Aufregung alleine schon ein Unwort in unser stets wohltemperierten Gesellschaft.
Und deshalb nenne ich „mein“ schönes Mülheim am Rhein bis auf weiteres Müllheim. Ich wünsche allen Lesern viel Freude beim Aufregen, Widerstand leisten und Zivilcourage zeigen. Ihr Partycrasher.
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