Subkultur Mülheim
von Christian Wagner
Foto: Robin von Gestern
Köln-Mülheim, ein Donnerstagabend im November. Es ist kalt und regnet mal wieder. Eigentlich kein guter Tag zum Rausgehen. Aus einem Gebäude in der Wallstraße dringen dumpfe Beats auf die Straße, meist um die 90 bpm. Durch die dicken Glasbausteinfenster im Erdgeschoss erscheinen schemenhaft Menschen. Bei näherem Hingehen hört man vertraute Samples und leise Wortfetzen. Die Tür öffnet sich und plötzlich stolpert man in einen kleinen Raum und ist mitten drin beim Freestyle, der vielleicht ursprünglichsten Form der Hiphop Kultur.
Ein DJ, zwei Plattenspieler und die üblichen Verdächtigen am Mikrofon: Willkommen beim wöchentlichen Rap Stammtisch in der LA RANZERIA! Ehemals als Metzgerei genutzt und an den gekachelten Wänden noch zu erkennen, hat sich dieser Ort im vergangenen Jahr zu einem selbstorganisierten Freiraum für Subkultur in Mülheim entwickelt. Im Kollektivbetrieb entstehen hier Veranstaltungen, wie beispielsweise Lesungen, Zeichenabende oder Filmvorführungen. „Dienstags kann man seine Platten mitbringen, dazu gibt es Waffeln, am Wochenende schon mal ein kleines Konzert oder eine Vernissage“, erzählt mir Robin von Gestern, einer der 15 Betreiber*innen der Ranzeria. Überhaupt läuft hier vieles nachhaltig und unter dem Motto „See a Job – have a Job“. Das Essen ist vegetarisch, die Toilette wird teilweise mit Regenwasser gespeist und es gibt Makkaroni statt der Plastiktrinkhalme. An der Wand auf dem Klo findet sich neben viel Blickfang ein zum Spiegel recycelter Plattenspieler, designed und made in Mülheim. Eintritt oder feste Getränkepreise gibt es nicht. Alles finanziert sich auf Soli- bzw. Spendenbasis und oftmals ist es einfach die Liebe zum Detail, die diesen Ort besonders macht.
Wir ziehen weiter. Vorbei am LIMES, seit über 10 Jahren ein stabiler Anlaufpunkt für Punk Rock und alternative Kneipenkultur, geht es die Dünnwalder Straße entlang über den Clevischen Ring in die Berliner Straße zu einem weiteren Urgestein des Viertels: Seit über 70 Jahren steht hier, allen Witterungen zum Trotz, der KULTURBUNKER. Während des zweiten Weltkrieges unter dem Einsatz von Zwangsarbeiter*innen des NS-Regimes erbaut, diente der Hochbunker mit seinen massiven Stahlbetonwänden dem Schutz vor Bombenangriffen und nach dem Krieg vielen Mülheimer*innen zunächst als Tanz- und Vergnügungspension bis er schließlich nach einem Dornröschenschlaf in seine heutige Nutzung als Kulturzentrum, Kunst- und Konzertlocation in den Kulturbunker e. V. überging und seitdem regelmäßig kleine und große Kulturveranstaltungen aller Art beherbergt.Im ersten Stock des Bunkers, in dem die Kunstgalerie und die Backstage-Räume untergebracht sind, bereitet derweil Tim Ossege seine neue Ausstellung vor. Der 34jährige bringt unter seinem Alter Ego „SeiLeise“ seit Jahren Street Art in den urbanen Zentren Europas unter die Menschen und in den öffentlichen Raum. Daneben betreibt er mit befreundeten Künstler*innen die NO HATE FAMILY, ein Projekt verschiedener Paste Up und Sticker Artists, immer unter dem kölschen Motto „Leeve un leeve losse – Street Art jäje Hass.“ Die Sticker kleben in Berlin, New York oder Lissabon. Köln-Mülheim bezeichnet er allerdings als sein „Wohnzimmer“. Für ihn somit naheliegend, dass er seine Werksschau um die Ecke im Kulturbunker ausstellt. Einige Tage später bei der Vernissage drängen sich die Leute vor seinen Arbeiten. Um den Kulturbunker herum entdeckt man jetzt immer wieder neue Aufkleber und Straßenkunst von Künstler*innen aus Mülheim und Umgebung.
Auch der kurze Gang zur MüTZe lohnt sich. Im Park neben dem Bürgerhaus befindet sich eine große legale Freifläche zum Sprayen und schafft damit eine sich ständig verändernde Freiluft Galerie auf der Berliner Straße.
Rückblende. September, die letzten Sommerstrahlen. Sonntags noch mal raus. Am Mülheimer Hafen feiern hunderte von Menschen friedlich unter dem Stichwort „ZUKUNFT MÜLHEIM“ bis in den Abend zu elektronischer Musik. Familien mit Kindern und Hunden trifft man hier genauso wie die Party People der vergangenen Nacht. Es geht friedlich und entspannt zu, hat man den Eindruck. Man kennt und schätzt sich, es wirkt nicht so überlaufen wie die Open Airs am Aachener Weiher oder an den Poller Wiesen, auch der Müll hält sich, Gott sei Dank, noch in Grenzen.
Mein Resümee als jemand, der auf der „anderen“ Rheinseite lebt? Hier geht es ehrlich und ungeschminkt zu, die Leute sind irgendwie auf dem Boden geblieben, hier ist man nicht „hip“, weil es hip ist, „hip zu sein“. Die Leute machen ihr Ding. Authentisch, unaufgeregt und meist ohne großes Theater. Dies spricht sowohl für die Menschen, als auch für die Kultur im rechtsrheinischen Köln. Ehrenfeld oder Belgisches Viertel kann jede*r – Mülheim muss man wollen. Dies wollen aber immer mehr Menschen, nicht nur junge und kreative. Also schnell sein, bevor auch hier die Mieten weiter ansteigen und die Gentrifizierung fortschreitet. Auch durch den (kommenden) Wegfall von Kultur- räumen im Linksrheinischen, wie zum Beispiel dem Helios Gelände, entstehen neue kulturelle Vakuen, die Möglichkeiten für Kunst und Musik im Rechtsrheinischen schaffen. Hier wünsche ich mir allerdings noch mehr Unterstützung durch die örtliche Politik und die engagierte Stadtgesellschaft, sei es in Form von Fördergeldern für Projekte oder Freiflächen für Kunst und Open Airs. Für mich klingt Mülheim manchmal wie eine von diesen etwas abgegriffenen Schallplatten, die man hin und wieder aus der Kiste zieht: Knarzig, rauschig und etwas schmutzig, ab und an ein Sprung, dafür aber spannend, rare und immer mit Soul. Das macht es so unglaublich charmant. Mülheim is for Lovers!
Über den Autor: Christian Wagner, 32 Jahre alt.
Seit Über 15 Jahren im Nachtleben und für die Kultur unterwegs. Nach Umwegen über Münster seit Juni wieder in Köln. Wohnt aktuell noch in Nippes, sucht gerade eine Wohnung in Mülheim.
Kommentar schreiben