In Mülheim ankommen und das Veedel aktiv entdecken
von Marita Odia
Fotos: Eva Rusch
Corinna Schüler (33) zog im Januar 2018 aus Köln-Sülz in die Mülheimer Grünstraße. Birgit Allgeier (37) kommt aus Freiburg und hat in Mülheim eine Familie gegründet. Kofi Boachie-Danquah
(25) ist ein Masterstudent und zog im Oktober 2018 hierher. Im Februar trafen die Neu-Mülheimer sich mit 20 anderen Kölnerinnen und Kölnern zwischen 20 und 77 Jahren in der Mülheimer
Hafenakademie, um „Nachbarschaftshelden“ zu werden. Sie trainierten unter Leitung des Kölner Vereins Transfer e. V. ihre Fähigkeiten, Menschen aus der Nachbarschaft zu begegnen, sie mit all ihren
persönlichen und kulturellen Eigenheiten kennen und schätzen zu lernen, ihre sichtbaren und unsichtbaren kulturellen Identitäten wahrzunehmen und zu respektieren. In kleinen Gruppen erdachten sie
Nachbarschaftsaktionen, die in Mülheim und ganz Köln in diesem Jahr stattfinden sollen. Nachbarinnen und Nachbarn, die mit Ihnen aktiv werden sollen, sind ihnen sehr willkommen.
Corinna ist ein „Porzer Kind“, also in Köln-Porz groß geworden. Sie lebte als Studentin im niederländischen Nijmwegen. Nach dem Studium kehrte sie nach Köln zurück. Mülheim hat Corinna schon als 18jährige kennengelernt. Sie besuchte ihren damaligen Freund in der Berliner Straße. Nach dem NSU-Attentat in der Keupstraße (2004) hatte sie von ihm Pfefferspray in die Hand gedrückt bekommen, um sich zu verteidigen. Mülheim war keine sichere Ecke, hieß es. Heute fühlt sie sich in Mülheim wohl. „Es ist etwas anderes, wenn du hier nicht als Besucher ankommst, sondern zu Hause bist.“ Der studierten Kulturanthropologin gefällt, dass die Menschen und das Leben in Mülheim sehr bunt sind. Und sie schätzt es, „nicht nur unter meinesgleichen zu sein. Mülheim hat eine Schäl Sick-Identität, das ist für mich ist das viel authentischer und echter als die Happy-Welt in anderen, homogeneren Stadtteilen wie Köln Sülz, wo ich gewohnt habe, bevor ich nach Mülheim gezogen bin.“ „Happy-Welten“ sind für Corinna langweilig. Es sind „Bubbles“, also Seifenblasen, die verhindern, dass man Leben und Nachbarschaft in seiner ganzen Vielfalt wahrnimmt. Für Corinna gibt es genauso viele Wahrheiten über ein Veedel, wie es Menschen in ihm gibt. Jeder nimmt seine Welt anderes wahr, Schönheit genauso wie Schattenseiten. Ihre Nachbarschaftsaktion startet auf dem Sommerfest des Bürgerhauses MüTZe: Das Team wird am 24. Mai mit den Besuchern des Sommerfestes ein Veedels-Mosaik gestalten.
Emma ist 2017 geboren. Mit ihren knapp 90 Zentimetern Augenhöhe sieht Köln Mülheim noch einmal ganz anders aus. Spielplätze brauchen schon mehr als Sand, um sie zu begeistern. Schaukeln zum Beispiel. Auf dem Kohlplatz geht das in einem großen Korb mit mehreren Kindern auf einmal. Im Fahrradanhänger ihrer Mama kutschiert sie den Rhein entlang und lernt ihr Zuhause kennen. Mama Birgit zog 2015 aus Freiburg nach Köln Mülheim. Nach zwölf Jahren im Breisgau erschien ihr Freiburg zu „eng und zu eindimensional“. Köln und Berlin standen zur Auswahl, sie entschied sich für Köln – nicht zuletzt der Liebe wegen: 2015 zog sie zu ihrem Mann nach Mülheim. In einem Sabbat-Halbjahr hat sie die Stadt mit dem Fahrrad erforscht, einen Türkisch-Kurs belegt und begonnen, sich in der Flüchtlingsarbeit zu engagieren. Heute zieht ihr Rad den Anhänger für Ausflüge mit Emma. Köln-Mülheim bietet ihr das „wahre Leben“, nach dem sie gesucht hatte. Alle Kulturen sind dort zu finden. Für sie ist Mülheim der unaufgeregteste aller Kölner Stadtteile. Doch sie ist nicht unkritisch: „Wie fast alle hier verbindet mich mit meinem Veedel so eine Art Hassliebe.“ Birgit schätzt die entspannte Atmosphäre im Osten von Köln, sorgt sich aber zugleich darum, ob Mülheim für Emma die richtige Heimat ist. Sie wünscht sich weniger Stickoxide am Clevischen Ring, weniger Müll auf Straßen und im Park, funktionierende Konsumorte für Drogenabhängige und mehr Unterstützung für Obdachlose.
Ihre Straße ist für Birgit etwas ganz Besonderes. Dort kennen sich die Leute – nicht nur die aus dem Haus, in dem sie wohnt, sondern auch die Nachbarn von der anderen Straßenseite. Im Moment beschäftigt sie die Frage, wie man die Nachbarschaftshilfe „im Kleinen“ noch weiter intensivieren kann. „Die Leute versuchen schon, sich zu sehen. Es gibt in meiner Nachbarschaft bereits kleine, spontane Tauschbörsen.“
Als Kofi Boachie-Danquah (25) in Mülheim ankam, erlebte er das Viertel „vielfältiger als viele andere Stadtteile“, die er bereits kennengelernt hat – in Deutschland und weltweit. „Du triffst hier türkische, deutsche, afrikanische, osteuropäische Menschen.“ Er vergleicht Mülheim mit der Bronx in New York, die heute noch unter dem schlechten Image aus den 60iger Jahren des vergangenen Jahrhunderts leidet. „Dort ist die Bevölkerung auch ganz unterschiedlich, es gibt Latinos, Schwarze, Jamaikaner.“ Kofi ist in Accra aufgewachsen, die Hauptstadt Ghanas ist mehr als doppelt so groß wie Köln. Der Masterstudent fühlt sich in Mülheim angekommen. Aufgefallen ist ihm in den ersten Wochen als Mülheimer, dass ihm hier besonders viele freundliche Menschen begegnen. Und zugleich die alltägliche Diskriminierung. Den Politikwissenschaftler stören Umweltverschmutzung und Kriminalität im Viertel. Mülheim könnte ein großartiger Ort werden, findet Kofi, wenn die Menschen ihre Community immer weiter entwickeln. Kofis Projektgruppe „Kuchenduft“ besteht aus fünf Mitgliedern zwischen 22 und 77 Jahren. Ihre Idee ist, gemeinsam einen Nachmittag lang zu backen und so mit Nachbarn und Menschen aus dem Veedel eine schöne Zeit zu verbringen. Ein erstes Treffen fand im April statt, das nächste wird in Kürze bekannt gegeben.
Andreas Rosellen und Lisa Mindthoff sind die Projektverantwortlichen im Kölner Verein Transfer. Corinna, Brigit, Kofi haben sich von ihnen zu „Active Citizens“ (Nachbarschaftshelden) ausbilden lassen. Ziele des Projektes sind bürgerschaftliches Engagement im Einsatz gegen Diskriminierung von gesellschaftlichen Minderheiten. Und mehr Toleranz in vielfältigen Nachbarschaften. Zu diesem Zweck arbeiten derzeit sechs Organisationen aus fünf europäischen Ländern (England, Niederlande, Portugal, Polen und Griechenland) zusammen.
Der Verein transfer wollte in einem möglichst vielfältigen Kölner Stadtteil tätig werden. Nicht nur die kulturelle Vielfalt, sondern auch die vielen sozialen Organisationen, Initiativen und Vereine, die in Mülheim ihren Standort haben, sprachen dafür. Andreas Rosellen: „Unsere Idee hat sich in den Workshops bestätigt. Wir haben die Nachbarschaftshelden als stark engagierte Menschen kennengelernt, die zum Teil schon ganz konkrete Ideen mitgebracht haben oder einfach in ihrem Stadtteil aktiv werden wollten. Die Mülheimerinnen und Mülheimer in der Gruppe zeigten eine große Identifikation mit ihrem Stadtteil und waren hochmotiviert. Wir konnten neue Netzwerke aufbauen, haben von tollen Initiativen und Ideen erfahren. Wir sind gespannt was sich in den kommenden Jahren alles entwickelt.“ Der Verein Transfer und die Zahl seiner Mitarbeiter ist in den vergangenen Jahren stark gewachsen. Für Juli 2019 ist der Umzug in ein Büro am Wiener Platz in Mülheim geplant.
Marita Odia: Die Autorin stellt bei Interesse von Lesern an Nachbarschaftsprojekten gerne den Kontakt zu den Nachbarschaftsheldinnen und –helden her. Bitte senden Sie dazu eine Mail an marita@odia.de.
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Brigitte Röttges (Montag, 15 Juli 2019 18:07)
Liebe Marita,
ganz herzlichen Glückwunsch zu diesem Artikel, der Mühlheim und eure Gruppe hervorragend darstellt. Viel Erfolg weiterhin bei euren Projekten.
Ganz herzlich Brigitte Röttges ( deine Tante)