Exkursion zur Mülheimer Tropfsteinhöhle
Miniatur #5
Eine Reihe von Marco Hasenkopf
Mobile Fotos: Marco Hasenkopf
Dies ist die lebensfrohe und abenteuerliche Geschichte des kleinen Stalakmiten „Drecki“ zu finden in der landauf, landab bekannten Mülheimer Tropfsteinhöhle an der Unterführung Mülheimer Brücke Ecke Biegerstraße.
Die Tropfsteinhöhle ist der Publikumsmagnet im Rechtsrheinischen. Vergleichbar nur mit dem legendären Schnapsbrunnen nach Schwarzwälder Vorbild am Wiener Platz sowie der Rheinischen Erbsensuppe „Herzog-Jan-Wellem“-Art. Regelmäßig durfte ich während unserer theatralen Exkursionen im Stadtteil das prächtige Heranwachsen des Stalakmiten – 0,3 Mikrometer in zehn Jahren – beobachten. Diese kleine Sedimentablagerung ist die Geburtsstunde von etwas ganz Großem. All dieser Dreck – Taubenkot, Hundescheiße, Pisse, Plastiktüten, Zigarettenkippen und was da noch so liegt – diese Ausscheidungsgemengelage wird, von Regen, Feuchtigkeit, Überschwemmungen, kurz Wasser, gespeist, langsam zersetzt und lagert sich ab. Dieser Vorgang wiederholt sich sehr, sehr oft und dauert naturgemäß sehr, sehr lange... Das wird so lange passieren, bis wir Menschen die neuen Dinosaurier sind. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Der Mensch hat Erstaunliches geleistet – auch sein Aussterben kriegt er hin. Erst nachdem das Zeitalter der Menschen beendet sein wird, wird dieser kleine ekelige Dreckhaufen zu einem imposanten Stalakmiten herangewachsen sein und das Fundament einer gigantischen Tropfsteinhöhle bilden. Zuvor muss aber noch etwas ganz anderes passieren. Die Brücke muss einstürzen. Böse Zungen behaupten, sie wäre nicht weit davon entfernt. Die vielen tausend Tonnen Stahl und Beton der Mülheimer Brücke zerfallen in ungefähr 10.000 Jahren. Um sie errichten zu können, mussten die Mülheimer ihren historischen Stadtkern opfern. Umwelteinflüsse, Korrosion,
Erosion und Tektonik zersetzen mit schneckenhafter Langsamkeit das Material. Als erstes setzt der Stahl Rost an und korrodiert. Und weil das alles arbeitet, wird auch der Beton brüchig, der eigentlich viel länger halten würde. Er wird porös und zerbricht schließlich, was zum Einsturz der Brücke führen
wird. Spektakulär. Das dauert nur 300 Jahre. Den Überbleibseln bleiben nun 9.700 Jahre. Kein Grund zur Trauer, denn diese geophysikalischen Veränderungen begünstigen unseren kleinen Dreckhaufen. In dieser dunklen Gebärmutter der Zukunft kann „Drecki“ prächtig wachsen und gedeihen, um zum imposantesten Stalakmiten nördlich der Alpen zu werden. Das dauert einige 10.000 Jahre und ob es dann überhaupt noch die Alpen gibt, vermag ich nicht zu prognostizieren. Ob jemand das neu erstandene Naturwunder betrachten kann und wie diese Wesen aussehen, ist fraglich.
Bronzeskulpturen sind selbst nach zehn Millionen Jahren noch zu erkennen. Und damit weiß man auch, warum sich Menschen gerne in Bronze ‚verewigen’ lassen. Das Wort passt an dieser Stelle erstaunlich gut. Auch wenn es nicht der naturwissenschaftlichen Tatsachen entspricht, so halte ich zehn Millionen Jahre für ziemlich nah an ewig. Aus dem kleinen Drecki wird die Mülheimer Kathedralen-Höhle entstanden sein. Und sie wird bleiben. Höhlen sind gut darin zu bleiben. Erst nach 6,5 Milliarden Jahren wird auch das ein Ende haben. Die Sonne wird sterben. Sie wird sich aufblähen, Merkur, Venus und schließlich die Erde verschlucken. Menschen gibt es dann ja längst nicht mehr. Nur Bakterien ist es bisher gelungen Äonen zu überleben. Aber was dann noch von uns, dem Anthropozän, dem paleofood-fressenden Homo Hipster, bleibt, sind die durchs Weltall schwingenden Radio- und Fernsehwellen. Es ist also theoretisch möglich, dass in sieben Milliarden Jahren oder später irgendein Alienwesen eine Antenne ausfährt und zufällig auf Bruchstücke von Trumps Twitterperlen stößt. Alles was bleibt, sind die größten Nichtigkeiten unserer Zeit.
Jahrzehntelang verwehrte sich die Mülheimer Brücke gegen jegliche Instandsetzung und wurde zum naturwissenschaftlichen Hotspot für allerlei renommierte Speläologen – Höhlenforscher. Durch pures Nichtstun konnte Dreckig gedeihen und darin ähnelt er wohl eher dem Kölner an sich als dem Mülheimer. Wie dem auch sei, da Tropfsteine wie gesagt naturgemäß sehr langsam wachsen, entziehen sie sich in ihrer Bedeutung einer Beurteilung durch den Menschen. Trotz Sanierung wissen kundige Höhlenforscher: Die Zeit arbeitet für sie. Und schon bald – es wird keine Zeitalter sondern höchstens eine Generation dauern – sieht die Brücke wieder aus wie vorher. Ob das Bauwerk zuvor noch zur neuen Gorch Fock oder dem Kalter Hubschrauberlandeplatz geworden ist, interessiert dann schon niemanden mehr.
Grenzenloses Wachstum - in der Wirtschaft so was wie eine unerreichbare, sprich fixe Idee, ist für Tropfsteine Fakt. Wenn man sie lässt, wachsen sie bis ultimo.
Leider hat man Drecki nicht wachsen lassen.
Im Frühjahr 2019 wurde Drecki, dieses einmalige naturgeschichtliche Denkmal, von Sanierungsaktivisten mit Ingenieursdiplom plattgemacht. RIP.
Tipp:
Neue Termine der theatralen Stadtteilerkundung „Caput VIII – Heine in Müllem“ ab April 2019:
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