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In Mülheim zuhause #3

Zwei Säulen am Rhein; „Nada que declarar“ und „Die Ausgewanderten“. Foto: Eva Rusch
Zwei Säulen am Rhein; „Nada que declarar“ und „Die Ausgewanderten“. Foto: Eva Rusch

In Mülheim zu Hause zu sein erweckt in mir viele Gedanken und Gefühle. Zu Hause kann nur in der Heimat sein? Ja, definitiv. Aber nicht im Sinne der begrenzten Idee des geographischen Territoriums, sondern der Abstraktion von Heimat, die sich in universellen Kategorien wie Ernährung, Natur, Musik oder Literatur manifestiert. In den zwölf Jahren meines Lebens in Deutschland – ab Februar 2019 nun als deutsche Staatsbürgerin – habe ich in einigen dieser Kategorien „Heimat“ erlebt. Aber was Literatur betrifft: Erfüllt nur die spanische Literatur mein Bedürfnis nach Heimat? Deutsche Literatur war mir stets fremd. Ich hatte keinen Zugang außer vielleicht über die Zeitschriften im Wartesaal des Kinderarztes. Es fehlte mir in der deutschen Literatur doch immer die irrationelle Faszination eines Jorge Luis Borges. Die Säulen meines neuen Zuhauses waren nicht vollkommen.

 

Nun – seit dieser einen Scrabble – Partie im Juni 2019 ist eine erfreuliche Wendung eingetreten. Deren unbezwingbare Gewinnerin wird über ihre Reise nach Norwich befragt. Sie berichte uns, dass sie im British Centre for Literary Translation zu einer Diskussionsrunde zwischen den europäischen Übersetzern von W. G. Sebald eingeladen war. Das Beste: Teresa Ruiz Rosas, die peruanische Schriftstellerin, die Sebald kannte und die die erste war, die sein Werk „Die Ausgewanderten“ ins Spanische („Los Emigrados“) übersetzt hat, ist meine Nachbarin. „Sebald ist einer der bedeutendsten deutschen Schriftsteller des

20. Jahrhunderts“ sagt sie, während sie ihre mehr als 200 Punkte am Ende des Spiels zusammenrechnet. Das ich nur Zweite wurde, war ab diesem Moment nicht mehr wichtig.

 

 

 

Als ich „Sebald“ Tage später in eine Suchmaschine eingebe, lese ich „beeinflusst von Jorge Luis Borges“! Ich muss dieses Buch lesen und bestelle „Die Ausgewanderten“ in der Buchhandlung am Wiener Platz. Schon am nächsten Morgen kann ich es abholen und nehme daraufhin eine U-Bahn in die Innenstadt. Während meiner geliebten Überquerung des Rheins beginne ich zu lesen und bin direkt fasziniert. Ich erinnere mich nicht mehr, wohin ich fuhr, und auch damals vergaß ich es. Zuerst erscheint ein Foto, und dann beginnt W. G. Sebald mir auf Deutsch ein neues Universum ganz tief in mein Bewusstsein zuzuflüstern. Es ist kein Zufall, dass diese vier langen Erzählungen von vier Personen handeln, die ihre Heimat hinter sich gelassen oder sie verloren haben. Sebald selbst verlässt Deutschland als er 22 Jahre alt ist. Er siedelt nach England um und versucht dort zurecht zu kommen. Zwischen Realität und Fiktion, zwischen Traumgespräch und Erinnerung erkenne ich Spuren von Borges. Dies bedeutet für mich eine wichtige Säule des Zuhauseseins.

 

 

Das größte Glück ist, dass ich kürzlich mit Teresa am Rhein spazieren gehe. Ich frage, und sie erzählt mir von ihm, von Sebald. Ihr erstes Meeting war in London in der Liverpool Station. Er war groß – wir sind kleine Südamerikanerinnen – ein netter und liebevoller Mensch. Vor etwa 20 Jahren bot er Teresa ein Stipendium im British Centre for Literary Translation an. Sie solle sich in England in Ruhe auf ihre Arbeit als Übersetzerin konzentrieren. Jedoch hatte sie zwei kleine Kinder zu Hause, die sie nicht alleine lassen konnte. Trotzdem hatte sie das Glück dem Autor Sebald mehrfach zu begegnen. Ich wiederum habe das Glück, dass sie eine Mülheimerin ist. Unsere Nachbarschaft weiß nicht, dass sie eine der besten Schriftstellerin Perus ist. Ihr Roman „Nada que declarar“ zeichnet mit den „Fensterfrauen“ die Problematik des Menschenhandels in unserer Nachbarstadt nach. Ich lese ihn auf Spanisch. Ein noch größeres Glück ist es, dass wir, zwei Ausgewanderte, gerne Scrabble auf Deutsch und auf Spanisch spielen.


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